Skip to main content

Schinkenschaumbrot Berolina, Harzer Bachforelle und Dummersdorfer Mastkalbskotelett, Wodka und Rotkäppchen halbtrocken – Harald Roggensack, bis zur Wende Oberkellner im „Erfurter Hof“, hat sie wiederentdeckt, die Speisekarte vom 19. März 1970. Dem Tag, als das erste Hotel am Platze einen neuen Beinamen bekam: „Willy-Willi-Hotel“. „Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre? Willi Stoph erwartete mich am Bahnhof, von dem wir zum Erfurter Hof hinübergingen. Als ich mich zurückgezogen hatte, tönte es in Sprechchören: Willy Brandt ans Fenster!“ So liest es sich in den Erinnerungen des damaligen Bundeskanzlers. Auch für Gerd Freytag ist der Tag unvergessen: Er arbeitete 24 Jahre im „Erfurter Hof“ und war zum Besuch von Willi Stoph und Willy Brandt im „Pilsner“ mit der Betreuung der Journalisten beschäftigt. Darunter Eduard von Schnitzler: Einen so griesgrämigen Menschen wie ihn habe er später nie mehr getroffen: „Dem war wirklich nichts recht zu machen.“

„Nur die ,Besten´ durften damals nach vorn“, erinnert sich Werner Lusche. Er sei der Stift gewesen, der gerade im Erfurter Hof angefangen hatte, und musste im Hintergrund bleiben: „Was dieses Treffen bedeutete, dass es ein Meilenstein deutsch-deutscher Geschichte war, ist mir erst mit den Jahren deutlich geworden.“ Der Speiseplan von 1970 ist die historische Spezialität, die Werner Lusche – heute Inhaber der „Rathaus arcade“ – seinen Gästen auftischen konnte: Etwa 300 waren es jüngst, Ex-Erfurter-Hofler und „Kosmonauten“ – das „Kosmos“ war ein Teil des Erfurter Interhotels -, die zum 6. Mal von überall her nach Erfurt kamen, um sich zu erinnern. Daran, wie einst Walther Leisler Kiep im Grand Hotel die Schuhe gestohlen und die Kosmonauten Juri Gagarin und Siegmund Jähn bewirtet wurden, wie die Puhdys nach dem Konzert an der Bar standen und Erich Honecker zur Hasenjagd aufbrach – „an das Leben im Hof eben“, wie Lusche sagt. An all das, was sich auf gut 5000 Quadratmetern in 173 Zimmern, im Hotelrestaurant Erfordia, Moccabar, Winzerkeller, Kakteencaf-, Regina-Bar, Pilsner-Bierbar und „Rendezvouz“ abgespielt hat. Erinnerungen an die flambierten Fleischspieße des „Erfurter Rades“, Trepangsuppe „Hongkong“, Island-Kaviar, Pökelzunge mexikanisch, Kakao mit Nuss aus Neudietendorf oder der Holländer-Kaffee mit Eierlikör, Sahne und Zimt – Speisen, die die weite Welt in den Erfurter Hof brachten und auf der Speisekarte in Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch gepriesen wurden.

Auch das Aus des Erfurter Hofes, als am 30. Juni 1995 eine Sicherheitsfirma die Regie im Haus übernahm, die zuletzt noch 28 von einst 350 Mitarbeitern gehen mussten, war jetzt wieder Thema für Freytag, Roggensack, Lusche und all die anderen.

Mehr aber noch, dass sich die „Geschichte offenbar wiederholt“, wie Lusche sagt: Zehn Jahre nach dem Bahnhof wurde 1904/1905 das Hotel gegenüber gebaut. Jetzt läuft der Bahnhofsumbau auf Hochtouren – und in den Erfurter Hof soll wieder das Leben eines Fünf-Sterne-Hotels einziehen. Nicht nur Werner Lusches Augen glänzen bei dem Gedanken daran.

Aus der Chronik: Internationale Gäste

Louis Armstrong und seine All Stars, Schwimmweltmeister Roland Matthes, Kosmonaut Juri Gagarin, Egon Krenz und Franz Joseph Strauß, Willy Brandt und Willi Stoph, die Puhdys und Roy Black: Alle haben eines gemeinsam – sie waren Gäste im „Erfurter Hof“. Wie die meisten Erfurter – mindestens einmal in ihrem Leben. Zum Abschlussball, zur Hochzeitsfeier, zur Jugendweihe oder anderen gehobenen Anlässen. Kaum jemand, der nicht einen wirklich besonderen Moment in seinem Leben mit dem einstigen Grand Hotel verbindet.

„Die Modernität des Weltklassehotels soll in seiner äußeren Gestaltung ablesbar sein, weshalb ein klassischer Stil gewählt wurde, welchem zugleich die Monumentalität sowie auch gleichzeitig das Wohnliche des Hauses anhaftet“, schrieb Georg von Kossenhaschen in seinem Bauantrag für einen zweiten, östlich an den Erfurter Hof anschließenden Hotelkomplex im Jahre 1912.

Seine Hoch-Zeit erlebte das Hotel nach der Übernahme durch die Interhotel-Kette: Die Speisekarte konnte durch Importware aus Westdeutschland erweitert werden. Ab 1990 allerdings konnte das Vorzeigehotel, das einst alle Ansprüche erfüllte, nicht mehr mithalten.

Zuletzt habe nur noch der Übernachtungspreis von 190 D-Mark für Luxus gestanden, den DDR-Betten und -Schrankwände, vermehrte Wassereinbrüche und miserabler Brandschutz nicht mehr rechtfertigen konnten. Die Zimmer zu klein, dazu der Lärm vom Bahnhof – die Gäste blieben weg. 1995 schließlich das Aus.

Jetzt ist die Interhotel-Gruppe wieder aktiv: Mit dem Rückhalt aus dem Erfurter Stadtrat, der sich für das erste und einzige Fünf-Sterne-Hotel der Stadt gegenüber dem Bahnhof ausgesprochen hat, wird nun im Detail die Zukunft des Traditionshauses geplant. Ein Betreiber wird noch gesucht, doch die Interhotel-Holding ist Herr über 5500 Hotelbetten in den neuen Bundesländern – da werde sich ein Partner finden, wie Martin Ernst, Mitglied der Geschäftsführung, sagt. Und: „Mitte 2006 soll das Fünf-Sterne-Hotel eröffnet werden.“ Zugesagtes müsse noch in Vertragsform gebracht werden und Gespräche mit dem Finanzministerium zur Unterbringung der Spielbank stünden an. Mit dem „Bekenntnis der Erfurter“ zu ihrem „Erfurter Hof“ sieht Ernst den Startschuss für die Detailplanung gegeben.

Der Kontrahent im Erfurter Wettrennen um das erste Fünf-Sterne-Hotel schmollt: Im Brühl, dem alten Industrie-Viertel in Nachbarschaft zum Dom, waren die Verhandlungen mit der Baumhögger-Gruppe in vier Jahren schon weit gediehen. Von Schadenersatz-Forderungen ist die Rede – vermutlich ein kleiner Preis, scheint es für die Stadt doch unbezahlbar, wenn aus der Ruine gegenüber dem Hauptbahnhof wieder der „Erfurter Hof“ wird.

04.04.2003 Von Frank Karmeyer

Frank Karmeyer

Journalist

Leave a Reply

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.